Freiheit, die ich meine

Unter der schattenden Esche, die ihre Äste und Zweige wagrecht über das Lattendach der Laube breitete, saßen zwei frische, hübsche Knaben einander gegenüber, jeder sein »Namenbüchlein« in der Hand, wie man damals die Kinderfibeln oder Abcbücher für den Elementarunterricht nannte. Ein schwüler Spätfrühlingsnachmittag brütete über dem großen, stillen Garten. Aufrecht auf seinem Sessel, ohne sich anzulehnen, mit dem festen Vorsatz, die natürliche Trägheit zu überwinden, hielt Poldi die Augen streng auf die großen Lettern seines Buches gelichtet. Wenn er sich einen Satz recht eingeprägt hatte, deckte er die Hand darüber und versuchte es, ihn nachzusprechen. Es kostete ihn Mühe. Im Buchstabieren nahm er es mit jedem auf, aber Auswendiglernen war seine Stärke nicht. Leichter wär' es noch gegangen, hätt' er die Worte laut vor sich hinsagen können. Um aber den Bruder nicht zu stören, bewegte er nur stumm die Lippen: »Gottlieb und Emilie wurden in ihrer Jugend von ihrem Vater daran gewöhnt, früh aufzustehen ... « Ein schwerer Seufzer, der von der andern Seite des Tisches kam, machte ihn aufblicken. Dort saß Fred auf der Bank, oder lag vielmehr in die Ecke hineingelehnt, zerstreut, unlustig, schwer unter der Hitze leidend, immer in Bewegung, verdrossen hin- und herwetzend oder seine dicke blonde Mähne ungeduldig mit der Hand aus den Schläfen streichend. Er hatte wieder seine liebe Not, der Ärmste, man sah es gleich. In Poldis weichem Herzen, das beinahe wie das einer Mutter um den jüngeren Bruder sorgte, regte sich das Mitleid.

25,90 CHF

Lieferbar


Artikelnummer 9782385085018
Produkttyp Buch
Preis 25,90 CHF
Verfügbarkeit Lieferbar
Einband Kartonierter Einband (Kt)
Meldetext Folgt in ca. 10 Arbeitstagen
Autor Ertl, Emil
Verlag Culturea
Weight 0,0
Erscheinungsjahr 20221204
Seitenangabe 398
Sprache ger
Anzahl der Bewertungen 0

Dieser Artikel hat noch keine Bewertungen.

Eine Produktbewertung schreiben