Reise an die Küste

Der Protagonist der Titelerzählung, der an Alzheimer erkrankte Don Rafael, fährt jedes Jahr aus dem Landesinnern Kolumbiens mit dem Zug an die Küste, um seine Mutter zu deren Geburtstag zu besuchen. Den Zug gibt es seit Jahren nicht mehr, und auch Don Rafaels Mutter ist längst verstorben. Organisatorin der Reise ist Don Rafaels Frau Jesusita, die am Ende der Reise grosse Mühe hat, ihren Mann wieder >loszueisen< und sich gegen ihre Schwiegermutter durchzusetzen, die ihren Sohn unbedingt bei sich behalten will. Jesusita muss jedes Mal darum kämpfen, dass Don Rafael wieder mit ihr zurückkehren darf. Am Ende entpuppt sich die Erzählung als eine Liebesgeschichte. Die Reise an die Küste ist eine Reise an die Gestade des Hades, und die wahre Heldin ist Jesusita - eine Umkehrung des Motivs von Orpheus und Euridike. >Reise an die Küste< ist das Herzstück dieses Buchs und hat in vieler Hinsicht mit Gabriel García Márquez zu tun. Einmal weil der Nobelpreisträger an derselben Krankheit leidet wie Don Rafael. Zum anderen weil uns Don Rafaels Zug in genau die tropische Welt führt, aus der García Márquez stammt und in der seine Werke spielen. Und schliesslich weil Tomás González' Erzählung eine Weiterentwicklung des magischen Realismus ist im Sinne einer Verweltlichung und Humanisierung, ein Bruch mit ihm und zugleich eine Hommage für seinen Meister. Diese Sammlung kolumbianischer Erzählungen ist keine Anthologie im herkömmlichen Sinne, sondern eine sehr persönliche Auswahl des Herausgebers, in der er Perlen aus seinen vergriffenen Büchern mit neuen Fundstücken vereint. So entsteht ein ungeheuer lebendiges und spannendes Bild der Literatur eines Landes, in dem es zwar einen höchsten Berg, aber um ihn herum viele hohe Gipfel gibt. Wir sehen, dass die kolumbianische Erzählkunst, ja, selbst der magische Realismus nicht erst mit García Márquez begann, und wir können verfolgen, wie den jüngeren Schriftstellergenerationen das Vorbild des Nobelpreisträgers ein Ansporn war, nicht um ihn zu imitieren, sondern um neue Wege zu suchen, zum Beispiel in der Entdeckung der Stadt als literarischen Ort. »Solange ein Land solche Schriftsteller hat, ist es nicht verloren«, hat Peter Schultze-Kraft einmal gesagt.

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