Das Hexameron von Rosenhain

Das Zusammentreffen verschiedener zufälliger Umstände brachte in verwichenem Sommer eine auserlesene Gesellschaft liebenswürdiger und gebildeter Personen beiderley Geschlechtes auf dem Landsitz des Herrn v. P. im **** zusammen. Einige von ihnen hatten sich schon zuvor gekannt, andere sahen sich zum ersten Mahle, man wollte ältere Verhältnisse enger zusammenziehen, auch mocht' es (wiewohl noch mit dem Finger auf dem Munde) darauf abgesehen seyn neue anzuknüpfen, da unter den Anwesenden einige junge Leute waren, über denen bisher noch freye Herzen Amor und Hymen, jeder mit Vorbehalt seiner besonderen Rechte, sich in Güte zu vergleichen nicht ungeneigt schienen. Dass wir die Leser oder Leserinnen, denen diese Handschrift in die Hände fallen könnte, mit ausführlichen topografischen, mahlerischen und poetischen Beschreibungen des Schlosses, der Gärten, des Parks und der übrigen Umgebungen von Rosenhain verschonen, werden Sie hoffentlich mit gehörigem Dank erkennen, wiewohl es einem Schriftsteller von Profession vielleicht übel ausgedeutet werden möchte. Wir setzen dadurch Ihre Einbildungskraft in volle Freyheit, sich das alles so prächtig und reich, oder so lieblich und romantisch, in Griechischem oder Gothischem, Mohrischem oder Sinesischem, in ihrem eigenen oder in gar keinem Geschmack, vorzustellen und auszumahlen, wie es Ihnen nur immer am gefälligsten seyn mag. Man hat sich an dergleichen Beschreibungen so satt gelesen, dass die Neuheit selbst (wenn anders nach Mistriss Radkliffe und Jean Paul noch etwas Neues in dieser Art möglich ist) kaum vermögend wäre, einige Aufmerksamkeit zu erregen. Überhaupt dürfte den meisten Erzählern zu rathen seyn, in diesem und ähnlichen Fällen ihren Lesern lieber zu viel als zu wenig Einbildungskraft zuzutrauen. Eine vermischte, ziemlich zahlreiche Gesellschaft, welche mehrere Wochen auf dem Lande beysammen lebt, hat, ausser den gewöhnlichen Vergnügungen des Landlebens, noch manche Massnehmungen nöthig, um die beschwerlichste aller bösen Feen, die Langeweile, von sich abzuhalten. Die Gesellschaft, von welcher hier die Rede ist, hatte bereits so ziemlich alle andern Hülfsquellen erschöpft, als eine junge Dame, die wir (weil die wahren Nahmen hier nicht zu erwarten sind) Rosalinde nennen wollen, auf den alten, so oft schon nachgeahmten Boccazischen Einfall kam: dass Jedes der Anwesenden, nach dem Beyspiel des brühmten Dekamerone, oder des Heptamerons der Königin von Navarra, der Reihe nach, Etwas einer kleinen Novelle, oder, in Ermanglung eines Bessern, wenigstens einem Mährchen ähnliches der Gesellschaft zum Besten geben sollte. Dieser Vorschlag fand Beyfall und Widerspruch. Die Ältesten und die Jüngsten erklärten sich sogleich ganz entschieden, dass sie, wenn der Vorschlag durchginge, zwar sehr gern geneigte Zuhörer abgeben, aber, im Bewusstseyn ihrer Armuth an den nöthigen Erfordernissen, niemahls eine thätige Rolle bey dieser Art von Unterhaltung spielen würden. Die besagte junge Dame und zwey oder drey andere, welche sogleich auf ihre Seite getreten waren, wollten Anfangs eine Weigerung, welche sie einem bIossen Übermass von Bescheidenheit zurechneten, um so weniger gelten lassen, da sie selbst, nur im Fall alle Übrigen gleiche Gefahr mit ihnen laufen wollten, Muth genug in sich zu fühlen vorgaben, ihr Bisschen Witz und Laune auf ein so missliches Spiel zu setzen .. Als aber Jene, Einwendens ungeachtet, auf ihrer Weigerung so ernstlich beharrten, dass es unartig gewesen wäre länger in sie zu dringen, gaben die Übrigen endlich nach, fanden aber doch nöthig, sich von der ganzen Gesellschaft einige Punkte auszubedingen, ohne welche sie sich schlechterdings in Nichts einlassen könnten. Eine dieser Bedingungen, worauf der junge Wunibald von P. mit einem beynahe komischen Ernste bestand, und worin er auch von der grossen Mehrheit unterstützt wurde, war: dass alle empfindsame Farniliengeschichten, und alle sogenannte moralische Erzählungen, worin lauter in Personen verwandelte Tugenden und Laster, lauter Menschen aus der Unschuldswelt, lauter Ideale von Güte, Edelmuth, Selbstverläugnung und grenzenloser Wohlthätigkeit, aufgeführt werden, ein für alle Mahl ausgeschlossen seyn sollten. Ich bitte sehr, setze Herr Wunibald hinzu, mir diese Ausschliessung nicht so auszulegen, als ob ich die Dichtungen dieser Art, woran wir, denke ich, reicher sind als irgend ein Volk in der Welt, nicht nach Verdienst zu schätzen wisse. Gewiss haben auch sie, wie alles unter der Sonne, ihren Werth und Nutzen, und ich gestehe gern, dass ich (um nur Ein Beyspiel zu nennen) in den meisten Erzählungen von Starke eine sehr angenehme Unterhaltung gefunden habe. Aber man kann selbst des Besten zu viel bekommen, und immer Unschuld und Wohlthätigkeit und nichts als Unschuld und Wohltätigkeit geschildert zu sehen, könnte zuletzt auch dem wärmsten Liebhaber von Unschuld und Wohlthätigkeit lästig werden, zumahl, da der Abstich der Menschen, mit denen wirs in unserm ganzen Leben zu thun haben, von den Bürgern dieses herrlichen Landes Nirgendswo gar zu auffallend und schreyend ist. Vielleicht, sagte die Frau des Hauses, liegt der Fehler bloss daran, dass man uns diese rein unschuldigen und durchaus immer guten Menschen in lauter Verhältnissen und Umständen darstellt, worin sie wie Menschen aus dieser Welt aussehen sollen. Da kommt es uns dann vor, als ob uns der Dichter wirklich täuschen und im Ernste überreden möchte, es gebe solche empfindsame Tischler und Schneidergesellen, so edelgesinnte gewissenhafte Taglöhner und Bettler, so holdselige, kunstlose, und doch zugleich so feingebildete, Madonnenartige Pfarrerstöchter, und so unendlich freygebige und reiche Hof- Kammer- und Kommerzien-Räthe in unserm lieben deutschen Vaterlande überall vollauf, und wer kann sich das weiss machen lassen? Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte die junge Amande B., indem sich ihr gestvolles Gesicht mit einer liebenswürdigen Scharnröthe überzug, diess konnte doch schwerlich die Meinung eines so verständigen Mannes wie Starke seyn. Sollte nicht die Absicht, uns desto mehr für seine Personen zu gewinnen, und durch die anschaulich gemachte Möglichkeit, auch in unsern Verhältnissen so edel und gut zu seyn als jene, ein desto lebhafteres Verlangen, es in der That zu werden, in seinen Lesern zu erwecken, sollte diese Absicht, die er auf keine andere Weise so gut erreichen zu können glaubte, nicht hinlänglich seyn ihn zu rechtfertigen? Ihre Bescheidenheit, liebe B. (versetzte Frau von P.) verwandelt in eine Frage, was Ihnen selbst etwas ausgemachtes ist. Ich liebe diesen Glauben an die Güte und Bildsamkeit der menschlichen Natur, woran Ihr Herz und die Unerfahrenheit Ihres Alters gleich viel Antheil hat. Möchten Sie nie Ursache finden, Ihre gute Meinung von der Menschheit zu ändern! Immer dünkt mich indessen, die Versetzung solcher Engel-Menschen in unsre Alltags welt, wie viel Lebensähnlichkeit ihnen auch ein Dichter zu leihen weiss, diene doch nur dazu, uns desto gewisser zu machen, dass er uns blosse Mährchen erzählt. Meines Erachtens ist eine der Hauptursachen, warum wir Gessners Schäferinnen und Hirten so natürlich finden, weil er sie uns nicht für unsre Landesleute und Mitbürger giebt, sondern für Bewohner eines idealischen ausdrücklich für sie gemachten Arkadiens, wo es eben so natürlich zugeht, wenn sie bey aller ihrer Unschuld und Einfalt so artig, wohlgesittet und zartfühlig sind, als es natürlich ist, dass unsre Schafknechte, Viehmägde und Gänsehirten in allen Stücken des vollständigste Gegenbild von jenen darstellen. Da gegen diese Bemerkung der Frau von P. (vermuthlich aus blosser Höflichkeit) nichts weiter eingewendet wurde, so blieb es bey dem von Wunibald vorgeschlagenen Gesetz. Ich lasse mir billig gefallen was den Meisten gefällt, sagte Nadine, eine von den jungen Personen, welche Roslindes Antrag unterstützt hatten. Aber, wenn wir sentimentalische Alltagsgeschichtchen und idealische Farnilienscenen ausschliessen, so hoffe ich, es werde mir aus gleichem Rechte zugestanden werden, gegen das gesammte Feen- und Genien-Unwesen, gegen alle Elementengeister, Kobolde, Schlösser von ütranto, spukende Mönche und im Schlaf wandelnde bezauberte Jungfrauen, kurz gegen alles Wunderbare und Unnatürliche, womit wir seit mehreren Jahren bis zur Überladung bedient worden sind, Einspruch zu thun. Diese zweyte Bedingung fand noch lebhaftem Widerstand als die erste. Welcher Dichter oder Erzähler, sagte man, wird sich eine so reiche und unerschöpfliche Hülfsquelle verstopfen lassen wollen? Die Liebe zum Wunderbaren ist nicht nur der allgemeinste, sondern auch der mächtigste unsrer angebomen Triebe, und kaum wird eine Leidenschaft zu nennen seyn, die nicht, sogar in ihrer grössten Stärke, der Gewalt des Wunderbaren über unsre Seele weichen müsste. Der Hang zum Wunderbaren ist, wie man's nimmt, die stärkste und die schwächste Seite der menschlichen Natur, jenes für den, der selbst wirkt, dieses für den, der auf sich wirken lässt. Wer auf keiner andem Seite zugangbar ist, dem ist auf dieser beyzukommen. Wie übel würde also die Hälfte unsrer Gesellschaft, die es auf ihre Gefahr übernähme die andre zu unterhalten, daran seyn, wenn ihr gerade das gewisseste Hülfsmittel, die Zuhörer bey Aufmerksamkeit und guter Laune zu erhalten, untersagt wäre? Diese und andere Gründe wurden mit vieler Wärme gegen die vorgeblichen Freunde des Natürlichen geltend gemacht, aber von diesen hinwieder mit triftigen Gegengründen eben so eifrig bestritten: bis endlich Herr M., ein grosser Bewunderer der neuesten Filosofie, ins Mittel trat, und den Vorschlag that: wenigstens die Schutzgeister von dem Bann, welchen Nadine über das gesammte Geisterund Zauberwesen ausgesprochen hatte, auszunehmen. Die neueste Filosofie, versicherte er, sey (gleich der alten Platonischen und Stoischen) eine erklärte Gönnerin des Wunderbaren, und so weit entfernt, Geistererscheinungen für etwas unnatürliches anzusehen, dass vielmehr, ihr zu Folge, die ganze Körperwelt nichts als eine blosse Geistererscheinung, und eigentlich ausser den Geistern gar nichts der Rede werthes vorhanden sey. Er trage also darauf an: den Erzählern, ohne sich einer ungebührlichen Einschränkung ihrer wohl hergebrachten Dichterfreyheit anzumassen, einen so grossen Spielraum, als sie sich selber nehmen wollten, zu gestatten, und den Gebrauch, den sie vom Wunderbaren zu machen gedächten, lediglich ihrer eigenen Bescheidenheit und Klugheit anheim zu stellen. Herr M. zog im Nahmen der neuesten Filosofie eine so Ehrfurcht gebietende Stirne zu diesem Vortrag, dass weder Nadine noch sonst Jemand das Herz hatte, sich dagegen aufzulehnen, und so schien denn auch dieser vorläufige Punkt aufs Reine gebracht zu seyn. Die Ordnung, in welcher die Personen, die sich zur thätigen Rolle in diesem Gesellschaftsspiel erboten hatten, einander ablösen sollten, wurde itzt durchs Loos entschieden, und zugleich die Abrede getroffen, dass man sich künfig, so fern nichts anders dazwischen käme, alle Abende eine Stunde vor Tische in der grossen Rosenlaube oder im Gartensahle ungezwungen zusammenfinden wollte, wo es dann jedesmahl auf die gegenwärtige Stimmung der Anwesenden ankommen sollte, ob man sich auf diese oder eine andere Art unterhalten wolle. Denn bloss weil die Stunde dazu geschlagen, und gleichsam zur Frohne, Mährchen anhören zu müssen, schien Etwas, das weder sich selbst noch andern zuzumuthen sey. *** So weit geht in der Handschrift, welche dem Herausgeber, sehr zierlich auf Velinpapier geschrieben und von etlichen Zeilen mit der Unterschrift Rosalinde begleitet, zugeschickt und zu beliebigem Gebrauch überlassen worden - der Vorbericht. Die Handschrift selbst führt den Titel DAS HEXAMERON VON ROSENHAIN, und besteht aus sechs Erzählungen (oder Mährchen wenn man lieber will) womit die Gesellschaft auf dem Schlosse zu Rosenhain an eben so viel schönen Sommer-Abenden von sechs Personen, deren wahre Nahmen hinter romantische versteckt sind, unterhalten wurde. Wofern sie nicht einen sehr behenden Geschwindschreiber bey der Hand hatten, so ist zu vermuthen, dass jedes sein Mährchen selbst zu Papier gebracht und den andern Mitgliedern der Gesellschaft Abschrift davon zu nehmen erlaubt habe. Indessen gedachte man Anfangs wohl schwerlich, aus den anspruchlosen Zeitkürzungen eines kleinen Kreises einander gefallender und daher leicht befriedigter Verwandten und Freunde eine Unterhaltung für die Welt zu machen, Aber, was in ähnlichen Fällen schon öfers geschah, begegnete auch hier, und, wie es immer damit zugegangen seyn mag, gewiss ist wohl, dass die Handschrift dem Herausgeber nicht zugeschickt wurde, um sie unter sieben Siegeln in seinen Schreibtisch einzukerkern.

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Artikelnummer 9783832208257
Produkttyp Buch
Preis 13,50 CHF
Verfügbarkeit Lieferbar
Einband Kartonierter Einband (Kt)
Meldetext Libri-Titel folgt in ca. 2 Arbeitstagen
Autor Kasties, Bert
Verlag Shaker Verlag
Weight 0,0
Erscheinungsjahr 2002
Seitenangabe 178
Sprache ger
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